Die Verfassungsbeschwerde (Vb) der Beschwerdeführerin (Bf), die aus übergegangenem Recht vom Sozialhilfeträger zur Zahlung von Unterhalt für ihre pflegebedürftige Mutter herangezogen worden ist, war erfolgreich.Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hob das Urteil desLandgerichts (LG) Duisburg auf, da es die Bf in ihrer von Art. 2 Abs. 1GG geschützten finanziellen Dispositionsfreiheit verletzt. Die Sachewurde an das LG zurückverwiesen. Wegen des zu Grunde liegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung
Nr. 10/2005 vom 28. Januar 2005 verwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die der Bf vom LG auferlegte Verpflichtung zur Annahme eines zinslosenDarlehens und zur Bewilligung einer Grundschuld auf ihrenMiteigentumsanteil entbehrt jeder Rechtsgrundlage und steht in krassem Widerspruch zu allen zur Anwendung gebrachten Normen. Das Gericht hatsich mit seiner Entscheidung der Bindung an Gesetz und Recht entzogenund damit die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungsfreiheit der Bfin nicht mehr durch die verfassungsmäßige Ordnung legitimierter Weisebeschränkt.
1. Die Leistungsfähigkeit der Bf ist - auch nach Auffassung des LG -erst mit dem Darlehensangebot des Sozialhilfeträgers, also nach dem Todihrer Mutter, entstanden. Damit hat das Gericht einen Unterhaltsanspruchfür einen vergangenen Zeitraum mit einer Leistungsfähigkeit der Bfbegründet, die erst nach dem Wegfall der Bedürftigkeit der Muttereingetreten ist. Dies widerspricht schon in Wortlaut und Systematik denhier maßgeblichen unterhalts- und sozialhilferechtlichen Regelungen. EinUnterhaltsanspruch nach § 1601 BGB besteht nur dann, wenn Bedürftigkeitbeim Unterhaltsberechtigten und Leistungsfähigkeit beimUnterhaltspflichtigen zeitgleich vorliegen. Auch §§ 90, 91 BSHG, die dieÜberleitung von Unterhaltsansprüchen ermöglichen, die dem Hilfeempfängerim Zeitraum der Hilfeleistung zustehen, gehen von einer zeitlichenKongruenz zwischen Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit aus. DieHeranziehung von § 89 BSHG zur Begründung eines Unterhaltsanspruchs steht in klarem Widerspruch zum Wortlaut dieser Norm und zu ihrer systematischen Einbindung in das sozialhilferechtliche Gefüge.
2. Die Auslegung des LG widerspricht auch dem Zweck der angewendeten Normen. Dem Grundsatz des Sozialhilferechts, einen Rechtsanspruch aufHilfe - wenn auch gegenüber einem Unterhaltsanspruch nur nachrangig - zugeben, läuft zuwider, mit Hilfe eines vom Sozialhilfeträger gewährten Darlehens einen zivilrechtlich nicht gegebenen Unterhaltsanspruch sozialhilferechtlich begründen zu wollen. Diese rechtliche Konstruktionwürde letztlich Sozialhilfeansprüche gänzlich zum Wegfall bringen. Denn wenn mit Hilfe eines Darlehens die Leistungsfähigkeit einesUnterhaltspflichtigen hergestellt werden könnte, läge es in der Hand des Sozialhilfeträgers, einen Sozialhilfeanspruch nicht zum Tragen kommen zulassen. Dies hätte zur Folge, dass ein Bedürftiger zwar selbst mit der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs gegenüber einem nichtleistungsfähigen Unterhaltspflichtigen scheitern würde, der Sozialhilfeträger jedoch mit einem entsprechenden Darlehensangebot den Unterhaltsanspruch begründen und sich damit von seiner Verpflichtung zur Sozialhilfegewährung befreien könnte.
Es liefe außerdem dem Sozialstaatsgebot zuwider, das fordert, Menschen einen Anspruch aufstaatliche Hilfe zukommen zu lassen, um so ihr Existenzminimum zusichern.
3. Schließlich widerspricht die Auslegung des LG auch dem Willen des Gesetzgebers. Er hat dem Elternunterhalt gegenüber dem Kindesunterhaltnicht nur nachrangiges Gewicht verliehen (§ 1609 BGB), sondern auch den Umfang der Verpflichtung deutlich gegenüber der Pflicht zur Gewährung von Kindesunterhalt eingeschränkt (§ 1603 Abs. 1 BGB). Die nachrangigeBehandlung des Elternunterhalts entspricht der grundlegend anderenLebenssituation, in der die Unterhaltspflicht jeweils zum Tragen kommt.
Bei der Pflicht zum Elternunterhalt ist dies meist dann der Fall, wenn die Kinder längst eigene Familien gegründet haben, sichUnterhaltsansprüchen ihrer eigenen Kinder und Ehegatten ausgesetzt sehen, sowie für sich selbst und für die eigene Altersabsicherung zusorgen haben. Dazu tritt nun ein Unterhaltsbedarf eines oder beiderElternteile im Alter hinzu, der mit deren Einkommen, insbesondere ihrerRente, vor allem im Pflegefall nicht abgedeckt werden kann. Diesen sichkumulierenden Anforderungen hat der Gesetzgeber Rechnung getragen, indemer sichergestellt hat, dass dem Kind ein seinen Lebensumständen entsprechender eigener Unterhalt verbleibt.
Die vom Gesetzgeber dem Elternunterhalt zugewiesene, relativ schwacheRechtsposition wird durch die neuere Entwicklung der Gesetzgebung ausjüngerer Zeit noch untermauert. Mit der schrittweisen Reduzierung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Einführung der gesetzlich geförderten privaten Altersvorsorge ("Riester-Rente") hat der Gesetzgeber die Verantwortung jedes Einzelnen hervorgehoben, für seine Alterssicherung neben der gesetzlichen Rentenversicherung rechtzeitigund ausreichend vorzusorgen. Dies muss bei der Bestimmung des einem unterhaltspflichtigen Kind verbleibenden angemessenen Unterhalts Berücksichtigung finden. Insbesondere aber hat der Gesetzgeber mit derEinführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab 1.Januar 2003 durch das Grundsicherungsgesetz und seit dem 1. Januar 2005durch die §§ 41 ff. SGB XII verdeutlicht, dass die Belastung erwachsener Kinder durch die Pflicht zur Zahlung von Elternunterhalt unter Berücksichtigung ihrer eigenen Lebenssituation in Grenzen gehalten werden soll.
Urteil vom 7. Juni 2005 – 1 BvR 1508/96 –
Karlsruhe, den 7. Juni 2005